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Extremismusmisere: politische Handlungen nach Motiven und Folgen untersuchen

Obwohl uns die Eigenheiten der sächsischen Justiz durchaus vertraut waren, herrschte in unserer Gruppe am Montag erst mal ungläubiges Staunen, als wir lesen mussten, dass der Polizist, der im Februar 2015 einen jungen Antifaschisten beim „Cegida“- Gegenprotest geschlagen hatte, freigesprochen wurde. Der zuständige Richter argumentierte, der Schlag in die Magengrube sei ein verhältnismäßiges „Mittel der Schocktechnik“. Dieses Wort meint Handlungen von Vollzugsbeamten, die den Widerstand eines Festgenommenen brechen sollen. Das Problem: Der junge Mensch hatte sich gar nicht gegen seine Festnahme gewehrt. Dennoch bewertete das Landgericht, anders als die Erstinstanz, die Tat als legitim und bewahrte den Polizisten damit vor einer Geldstrafe. Die Idee, die dahinter steht, findet sich inzwischen auch in vielen Reaktionen auf das Urteil: Um echte oder vermeintliche Feinde des Staates abzuwehren, darf ein Vollzugsbeamter auch Gewalt anwenden, die in anderen Kontexten unverhältnismäßig wäre. Um diese Politik praktisch zu machen, ist es notwendig, jungen Antifaschist*innen generell zu unterstellen, sie seien gewalttätig und staatsfeindlich. Folgerichtig äußern sich auch viele Kommentator*innen: Der Demonstrierende habe Pech gehabt, wer Steine werfe, sei selbst schuld, wer eine Straftat begehe, müsse nun einmal damit rechnen. Dass auf der Versammlung keine Steine geschmissen wurden (übrigens bisher an keinem Montag) und der junge Mann auch keine Straftat begangen hatte, interessiert hier nicht. Dass der Staat sich von sogenannten Linken trotzdem bedroht sieht, erkennt man auch in der Reaktion auf die Ausschreitungen vom 12. Dezember in der Leipziger Südvorstadt. Auf die Ankündigung faschistischer Gruppen, an diesem Tag den linken Stadtteil Connewitz in Schutt und Asche zu legen, folgte ein Polizeieinsatz, der sich von Deeskalation völlig verabschiedet hatte und damit auch dazu führte, dass einige linke Gegendemonstrant*innen mit entsprechender Gegengewalt antworteten. Die Reaktionen auf diesen Tag waren teilweise abstrus: Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung sprach von „offenem Straßenterror“. Was daran interessant ist? Nach Leipzig waren sich wichtige oder weniger wichtige Politiker*innen nicht zu schade, hartes Vorgehen gegen die Gewalttäter*innen zu fordern und Dinge wie Gummigeschosse ins Gespräch zu bringen. Gleichzeitig war es nach den Randalen in Heidenau, den Angriffen in Freital und unzähligen anderen Übergriffen auf Geflüchtete und ihre Heime auffallend still. Niemand sprach von Terror. Niemand wollte Gummigeschosse einsetzen oder die Demonstrierenden als das bezeichnen, was sie sind: Rassist*innen, Faschist*innen, Nazis. Stattdessen wurde allzu oft ein politischer Hintergrund ausgeschlossen. Die Schlüsse, die man aus dieser Haltung zieht, sind klar: insgesamt betrachtet sind sogenannte „Linksextremist*innen“ schlimmer als „Rechtsextremist*innen“. Diese Wichtung wird auch nicht relativiert durch die Aussage von Herrn Jung nach dem Naziüberfall auf Connewitz vom 11. Januar, dass auch dies „offener Straßenterror“ sei. Vielmehr wird hier die ganze Misere deutlich: Obwohl das Ausmaß der Gewalt deutlich unterschiedlich war, ist es für den OB offenbar kein Unterschied. 1) Den Ursprung der Misere findet man in der sogenannten Extremismustheorie. Wird sie eingesetzt, um politische Aktionen zu bewerten, dann werden Motive und Auswirkungenausgeblendet. Das Augenmerk liegt einzig und allein in der Haltung der Akteur*innen zum Staat. Die Folge: Kräfte, die als linksextremistisch gelten werden gleichgesetzt mit denen, die rechtsextremistisch seien. Die jeweiligen Taten werden als gleichwertig angesehen. Will heißen: Eine entglaste Bushaltestelle und ein brennendes Asylsuchendenheim sind „gleich schlimm“. Man erkennt schon an diesem Beispiel, dass die Extremismustheorie einzig und allein den Sinn hat, linke Politik zu diskreditieren. 2) Indem sich damit der Fokus noch weiter gen links verschiebt, verlieren politische Akteur*innen Aktivitäten von rechts aus dem Auge. Damit ist erklärbar, wie es zu einem solch exzessiven Anstieg rechtsterroristischer Gewalt wie in Sachsen 2015 kommen konnte, während Staat und Polizei damit beschäftigt sind, vermeintliche „Linksextremist*innen“ zu verfolgen. Die Folgen dieser Politik sind verheerend: Ausländisch gelesene Personen befinden sich in Sachsen mehr und mehr in einer dauerhaften Bedrohungssituation, Linke werden von Staat und Nazis gleichzeitig verfolgt und auch der Staat verliert mehr und mehr seine Legitimationsgrundlage, weil es ihm nicht gelingt, brennende Geflüchtetenheime als das zu benennen und zu verfolgen, was sie sind: rechter Terrorismus. Damit geht der Schuss, Staatsfeind*innen zu denunzieren und zu verfolgen, nach hinten los. Ein Ausweg aus der Extremismusmisere wäre es beispielsweise, politische Handlungen nach Motiven und Folgen zu untersuchen. Dann würde man klar erkennen, dass das Motiv hinter Naziaktivitäten Menschenfeindlichkeit ist und ihre Folgen tendenziell tote Menschen sind. Man könnte genau so wirksam linke Akte klassifizieren, ohne sich Bedrohungsszenarien ausdenken zu müssen, in denen der Schwarze Block überall im Lande kommunistische Kommunen errichtet und die staatliche Ordnung zerstört.

1) Am 12. Dezember brannten neben Holzbarrikaden auch Mülltonnen. Außerdem waren entglaste Bushaltestellen und eine kaputte Bank zu beklagen. Am 11. Januar zogen mehrere hundert Nazis durch Connewitz, zerstörten etwa 30 Geschäfte und setzten eine Wohnung in Brand.

2) Dass auch historisch gesehen die Motivation hinter der Extremismustheorie Antikommunismus war, legt Wolfgang Wippermann sehr schön dar: http://gleft.de/1at

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Denen es nicht egal ist

Viele Menschen sitzen am Abend nach einem Arbeitstag im Wohnzimmer, sehen Nachrichten und denken sich dann: „Ach, die armen Flüchtlinge!“, wenn sie die Bilder der Familien mit schweren Taschen auf ihrem Weg ins sichere Europa sehen. In der Flüchtlingsfrage ruhen sich Bund und Länder auf der Arbeit der vielen Ehrenamtler*innen aus, obwohl es an allen Ecken der Unterstützung bedarf. Es wirkt täglich so, als hätte die schwarzrote Regierung kein Konzept. Sach- und Geldspenden kommen von Helfer*innen, in den Unterkünften arbeiten neben dem DRK auch einige Menschen, die das gar nicht müssen, unterstützen die Camps aber bei der Essens- und Kleidungsausgabe. Manche Leute betreuen einzelne Geflohene privat mit Deutschunterricht, lassen Flüchtlinge bei sich wohnen oder zeigen und erklären ihnen das Land, in dem sie jetzt wohnen. In all diesen Punkten gibt es bisher viele gut organisierte Initiativen. Eine Sache ist da aber: Wenn Refugees von einem Bundesland ins nächste geschickt werden, um ihr Heim zu beziehen, geschieht das oft mit der Bahn. Man setzt also Menschen, die die Landessprache nur bedingt sprechen, in einen Zug und lässt sie an Orte fahren, von denen sie noch nie gehört haben. Vom Ankunftsbahnhof bis zur Unterkunft sind es im konkreten Fall Chemnitz etwa 30 Minuten: Mensch fährt eine Station mit einem RE und dann geht’s durch schlecht beleuchtete Straßen mit kaputten Fußwegen. Tagsüber scheint das noch machbar, abends und nachts sieht das ganz anders aus. Bis ungefähr um 1:00 Uhr kommen Züge am Chemnitzer Hauptbahnhof an. Ich bin die Strecke ab und zu selbst gelaufen, wenn mich Flüchtlinge bereits Anfang August um Hilfe gebeten haben. Das ist unzumutbar, oder wie es der Chemnitzer Willkommensdienst (info@welcometo-chemnitz.org) auf www.goods4refugees.org schreibt: „Der Weg dorthin ist in Dunkelheit kaum zu finden, unsere Begleitung ist wichtig für die erschöpften und verunsicherten Menschen.“ Die Initiative entstand Mitte September und hat mittlerweile mehr als 150 „Mitglieder“. Sie begleiten die Ankommenden bis zum Heim, und erklären ihnen, wo sie sind. Das sind Menschen, denen es nicht egal ist, was mit denen um sie herum passiert. Sie könnten genausogut am Abend nach einem Arbeitstag im Wohnzimmer sitzen und es könnte ihnen egal sein, ob die Frauen, Männer, Kinder, Alten, Kranken und von der Flucht verwundeten und traumatisierten Flüchtenden sicher ankommen. „Warum hilfst du beim Chemnitzer Willkommensdienst?“, habe ich Fatih gefragt (alle Namen geändert). „Vor einem Jahr war ich selbst noch auf der Flucht. Ich kenne die Gefühle, die Situation der Leute.“, berichtet er „Sie sind dankbar für jedes Lächeln – Lächeln ist wertvoll in dieser Zeit – und sie sind dankbar für jede Hilfe. Die Menschheit ist eine Familie, alle Brüder und Schwestern. Eine Familie hält zusammen.“, schildert er. Das klingt harmonisch, wenn man die verhassten Familienmitglieder namens Pegida, NSU, AfD außer Acht lässt. Bei der Frage, ob Fatih während des Dienstes etwas Prägendes erlebt hat, sieht man in seinen Augen, dass er die erste Aussage tatsächlich ernst meinte. Er sagt: „Da gibt es vieles: Alte, die frieren, Kinder ohne Eltern … Einmal waren da eine Frau und ein Mann. Sie hatten zwei sehr junge Kinder. Sie hatten kein Geld, keine Winterkleidung. Es war sehr kalt in der Nacht und die Kinder haben geschrien. Sie mussten vor dem Camp eine Stunde warten und hörten nicht auf zu weinen. Das war auch schlimm für mich.“ Lea antwortet mir auf die Frage, was die Regierungen tun sollten: „Das beginnt mit der drastischen, unverzüglichen Bekämpfung der Fluchtursachen, wie z.B. das Beenden der Waffenlieferung weltweit, die gesamte Rüstungsindustrie stoppen […] Aufstockung der Hilfe z.B. für das UNHCR, für alle schon vorhandenen Flüchtlingslager in der Umgebung von Kriegsgebieten“, und das ist nur ein kleiner, dafür konkreter Ausschnitt ihrer Antwort. Eigentlich dürfte es den Willkommensdienst gar nicht geben. Eigentlich müssen sich der Staat und seine Beamten um die Flüchtlinge kümmern, aber die Regierung hat offensichtlich keinen Plan und die Leute vom Willkommensdienst haben die Lücke geschlossen, die sie entdeckt haben. Diese Leute machen einen großartigen Job und zeigen, wie einfach Solidarität umsetzbar ist. Gerade jetzt in den kalten Wintermonaten ist die Arbeit des Willkommensdienstes unabdingbar. Wer also helfen will und kann, der*die meldet sich via Mail an die Helfer, die dankbar für die Unterstützung sind.

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No Future 2.0 oder Was uns nicht tötet, macht uns Angst

Prekarisierung als Herrschaftsinstrument

Um die Rolle der Prekarisierung in der aktuellen Gesellschaftsform zu verstehen, greife ich zunächst zurück auf die Affektheorie des US-amerikanischen „Institute for Precarious Consciousness“. In ihrem Papier „Sechs Thesen über die Angst, warum sie effektiv Militanz verhindert und eine mögliche Strategie zu ihrer Überwindung“ entwickeln sie einen Affektbegriff von bestimmten, zeitlich abhängigen, kollektiven Gefühlen, die im Kapitalismus die Etablierung politischer Utopien effektiv verhindern. In der Frühphase ist dies das Elend der Arbeiter*innenklasse, welche politisches Engagement dieser Gruppe verhindert. Nachdem das Elend durch den sozialen Kampf in den Industriegesellschaften weitgehend verdrängt wurde, griff in der Phase des Fordismus die Langeweile ein. Nachdem auch diese effektiv bekämpft wurde, etablierte sich mit der Angst im Spätkapitalismus der aktuell herrschende Affekt. Ein wichtiges Merkmal eines solchen Gefühls ist, dass er ein offenes Geheimnis ist, welches vielfältigen Verschleierungstendenzen unterworfen ist. So herrschte in der in der Frühphase die Erzählweise vor, dass jede*r es zu Erfolg schaffen könne, während ein Großteil der Arbeiter*innen im Elend lebte. Dieser Kontrast wurde nicht etwa als notwendig falsches Bewusstsein gesehen; vielmehr wurde die Ursache für das Elend der Menschen auf diese selbst projiziert. Das Problem wurde personalisiert. Diese Merkmale findet man auch bei der kollektiven Angst wieder. So werden Depressionen und Burn Out vor allem als Krankheiten gesehen, die innerhalb des*der Kranken entstehen. Inwiefern die Angst reglementiert und unterdrückt, soll im Folgenden ausgeführt werden. Zunächst soll dazu der Zusammenhang zwischen Angst, Prekarisierung und Neoliberalismus gezogen werden. Offensichtlich waren der Umbau der Wohlfahrtsysteme und der Arbeitswelt entscheidend mitverantwortlich für die Etablierung prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Seien es die Hartz-Gesetze, welche Erwerbslose in die ökonomische und soziale Krise stürzten, sei es die massenhafte Ausbreitung von Leiharbeit und befristeten, schlecht bezahlten Arbeitsverträgen – solche Prozesse führten die Unsicherheit bei den Menschen herbei, welche die Prekarität massiv ausmacht. Als prekär wird also ein Arbeitsverhältnis dann bezeichnet, wenn es deutlich unter dem durchschnittlichen Einkommens-, Schutzund sozialem Integrationsniveau liegt und beim Betroffenen subjektiv mit dem Empfinden von Sinnverlust, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit einhergeht.1)  Als Folge dieses Empfindens manifestiert sich bei prekär Arbeitenden und Lebenden das angesprochene Gefühl der Angst. Sie wird verstärkt durch staatliche und mediale Repression, wie den Überwachungswahn oder auch TV-Sendungen, die persönliche Geschmäcker reglementieren und normieren.

Warum wir über die Angst sprechen müssen

Der Grund für diese weitreichende Einführung liegt in den Folgen der herrschenden Angst auf unsere politische Arbeit und unser Leben im Allgemeinen. Zum einen belastet die Personalisierung vor allem psychisch Kranke massiv, da sie für ihre Krankheit verantwortlich gemacht werden, obwohl dem größtenteils nicht so ist. Solange die systemischen Ursachen von Depressionen und Burnout nicht klar sind, ist es kaum möglich, die weitere Ausbreitung dieser Krankheiten effektiv einzudämmen. Indem die Angst verschwiegen wird, besteht die Gefahr des Projizierens „nach unten“. Der PEGIDA-Rassismus ist das Resultat eines solchen Prozesses, wo für die eigenen Existenzängste verantwortlich gemacht werden, welche „uns die Arbeit wegnähmen“. Außerdem hemmt die Angst – ähnlich wie beim Elend im 19. Jahrhundert – unsere politische Handlungsfähigkeit. Solange wir uns darum kümmern müssen, dass unser einjähriger Arbeitsvertrag regelmäßig verlängert wird, haben wir keine Zeit, uns mit politischen Utopien auseinanderzusetzen, die eine Zukunft fernab des Kapitalismus‘ zeichnen. Das Nichtaussprechen persönlicher Ängste verschleiert die Machtverhältnisse im aktuellen System. Außerdem erzeugt die Unsicherheit und gefühlte Ausgeliefertheit gegenüber dem System Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht, welche politische Arbeit als sinnlos und zeitverschwendend abtut.

Was tun?

Das „Institute for Precarious Consciousness“ schlägt im oben angesprochenen Text auch eine Lösung in Form einer prekaritätsorientierten Bewusstseinsbildung vor. Demnach sollen sich Handlungsperspektiven nicht aus bestehenden Theorien entwickeln, sondern vielmehr aus unseren Erfahrung. Zunächst ist dazu nötig, in einer Gruppe über persönliche Erfahrungen mit Prekarität und der Angst zu sprechen. Dadurch werden einerseits Informationen gebündelt, andererseits transformiert sich das offene Geheimnis der Angst in ein Faktum. Infolgedessen ist es nötig, die gesammelten Erfahrungen zu theoretisieren und die systemische Natur der Angst offenzulegen. Einerseits lässt sich durch das Veröffentlichen dieser gewonnenen Informationen die Deutungsmacht über das eigene Gefühl wieder gewinnen, anstatt dem System die Personalisierung der Angst zu überlassen. Andererseits wird dadurch die Angst in Wut gegen den Urheber, also das System transformiert. Erst mit dieser Wut – gesetzt dem Fall, dass sie (selbst-) reflektiert ist – wird es wieder möglich sein, ernsthafte politische Utopien zu denken, zu formulieren und als realistisch anzusehen.

1) Brinkmann, Dörre, Röbenack, Prekäre Arbeit, Bonn 2006, Seite 17

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ICH BRAUCHE GELD, …

… viel Geld. Der einzige Weg zum Ziel: ARBEIT. Ich begab mich schnell auf die Suche nach einem annehmbaren Job, der mir auch durchaus Spaß machen könnte. Ich liebäugelte sofort mit der Stelle als Promoterin. Ich war froh, fast schon euphorisch, denn ich hatte einen Monat Arbeit vor mir in Berlin, Hamburg oder Frankfurt, die Unterkunft sollte mir gestellt werden. Perfekt: Tagsüber Geld verdienen und sich gleichzeitig für Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit einsetzen und abends in das Nachtleben der Großstadt eintauchen. Für mich der Ausweg aus dem ewigen Dorfidyll in eine grenzenlose Autarkie, in der ich Verantwortung übernehme und mich selbst ausprobiere … Sorgen oder Ängste hatte ich gegenüber diesem Job nicht, ich sah alles als Herausforderung an und wollte diese annehmen. Ich freute mich auf kontroverse, interessante Debatten mit den verschiedensten Menschen aus allen Milieus. Das ist das, was ich als junger, aktiver Mensch wollte, vier Wochen lang Erfahrung auf der Straße einer Großstadt sammeln und nebenbei Geld verdienen. Es kam nun endlich der Tag, an dem alles begann. Hochmotiviert machten wir uns alle am Sonntag auf den Weg zu der notwendigen Schulung vor Arbeitsbeginn auf der Straße. Super, es war gemeinsames Frühstück angekündigt – Kaffee, Kippchen, Essen und mit netten Menschen in den Sonntagmorgen starten. Wir kamen an, die Teamleiter_in war da und jeder von uns bekam ein Glas Leitungswasser und es sollten neun Stunden Schulung beginnen, tolles Frühstück! Die Schulung war anstrengend und für mich auch etwas grotesk. Wir bekamen einen Gesprächsleitfaden eingehämmert und sollten diesen im Schlaf herbeten können, immer wieder übten wir lächeln und wie wir am besten unauffällig den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Spontanität? Sich einfach auf den Menschen, der vor einem stehen wird, einstellen? Spontane Diskussionen? NEIN! – An diesem Punkt ging mein Traum von kontroversen Diskussionen mit Menschen verloren. Ich merkte, ich sollte keinen kennenlernen und mit ihm die Meinung über Missstände in aller Welt austauschen und mich selbst weiterentwickeln und die Menschen vielleicht zum Nachdenken anregen … Ich sollte den Menschen ihr Geld nehmen. Irgendwie nahm die Schulung kein Ende, als ich dachte, ich kann alles und bin bereit für den nächsten Tag, meinte die Teamleiter_in, es sei noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Im Folgenden lernten wir auswendig, wie wir auf Aussagen von Passant_innen antworten, spontan und situationsabhängig? NEIN! Es wird allen das gleiche erzählt, keiner der Menschen wird individuell behandelt, denn es führt nur ein Weg zum Ziel! Die vorgeschriebenen Antworten gefielen mir teilweise nicht und ich sagte auch, dass ich solche Dinge nicht auf der Straße sage. Dinge wie: „Auf der Straße unterschreibe ich nicht, denn ich wurde schon oft enttäuscht von solchen Organisationen“, sollten so beantwortet werden: „Klar, das verstehe ich, aber schau mal, wenn du einmal von einem Mädchen enttäuscht oder hintergangen wurdest, hörst du doch trotzdem nicht auf, den Mädels auf der Straße hinterher zu schauen.“ Und nun: Das erste Mal auf der Straße stehen … unser Teamleiter war weg und wir waren von der ersten Minute auf uns selbst gestellt. Wir waren zu viert und tauschten uns natürlich auch zwischendurch aus und erzählten uns von Gesprächen, Erfolgen und Misserfolgen. In so einem Job wird man ständig psychisch belastet, denn die Menschen, mit denen man spricht, haben die verschiedensten Schicksale und Geschichten, die oft schockierend sind und nach solch einem Gespräch brauchte ich erstmal kurz Ruhe und wollte das natürlich auch mit meinem Team besprechen. Dann kam der Teamleiter zurück und es gab heftig Ärger! Wir haben nicht mit den Leuten zu quatschen, wenn wir merken, sie haben etwas zu erzählen, aber kein Geld – dann müssen wir das Gespräch abbrechen, sofort! Wir haben nicht unsere Meinung zu vertreten, wir dürfen nicht wir selbst sein. Wir wurden kontrolliert und überwacht, sobald man nicht lächelte oder Augenkontakt mit einem anderen Teammitglied hatte oder den Gesprächsleitfaden umstrukturierte, gab es sofort ein Einzelgespräch mit Vorwürfen und man bekam gesagt, dass man das schwächste Glied der Gruppe sei und alle anderen nur runterzieht. Mir wurde alle Menschlichkeit verboten, sobald ich sie leben wollte und ich selbst war, kam die Teamleiter_in und es gab Ärger und einen Anruf beim Chef, ich fühlte mich persönlich angegriffen und unterdrückt. Ich fühlte mich wie eine Maschine, die zwanghaft programmiert wurde, um Geld heranzuschaffen. 19 Uhr endlich vorbei, ich freute mich darauf, wieder ich selbst zu sein und nicht anderen Menschen etwas vorspielen zu müssen, weil ich Geld von ihnen haben möchte. Tja, Fehlanzeige, wie gesagt, was im Vertrag steht, ist doch egal! Wir arbeiten natürlich länger, machen unbezahlte Überstunden und bei einer vorsichtiger Nachfrage, warum wir immer noch arbeiten müssen, kam die Antwort: „Ich bestimme, wann Schluss ist und nicht ihr. Wir machen so lange, bis jeder die vorgegebene Anzahl an Spendenverträgen abgeschlossen hat.“ Als die Teamleiter_in endlich beschloss abzubauen, mussten wir noch eine Stunde in das Büro fahren für eine Teambesprechung und um aufzuräumen. In der ersten Teambesprechung gab es kein positives Feedback, nein wir wurden fertig gemacht, kritisiert und beleidigt. Nach dem ersten Tag fühlte ich mich wie ein Wrack – ich wollte und konnte nicht mehr. Ich wollte es mir selbst beweisen und machte weiter – doch die Unterdrückung hörte nicht auf. Unsere Gruppe war ein Dorn im Auge der Organisation! Wir verstanden uns untereinander zu gut, wir fragten zu viel nach und erlaubten uns sogar zu kritisieren – Oh mein Gott, wir nahmen es uns raus, unsere eigene Meinung frei zu sagen! Ich verstand die Welt ab diesem Zeitpunkt nicht mehr – ich erzählte den Menschen, dass sich die Organisation für Menschenrechte wie Meinungsfreiheit auf der ganzen Welt einsetzt und dafür tagtäglich kämpft, aber mir selber wurde als Arbeiterin der Mund verboten? Ja das war die Realität, der Kampf um Gleichberechtigung und Humanität wurde instrumentalisiert, um Menschen mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn das Geld aus der Tasche zu ziehen. WILLKOMMEN IM KAPITALISMUS. Ich hielt es nicht lang durch, bei dem Satz: „Menschenrecht ist nicht gleich Arbeitsrecht!“ musste ich einfach gehen. Ich arbeite nicht für eine wohltätige Organisation, die mich so verbiegt, damit ich funktioniere wie eine Maschine. Mein Traum von Großstadt und aktiver Arbeit war geplatzt. Völlig übermüdet, psychisch zerstört und traurig fuhr ich in mein Dorfidyll zurück. Es fühlte sich an wie ein Sektenaustritt, denn ich war endlich wieder frei! Ich durfte endlich wieder meine Meinung sagen, ich durfte wieder ich selbst sein ohne als aggressive, organisationsgefährdende, linke Feministin abgestempelt zu werden. Wieder kein Geld …

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Party ohne Ende oder Ende ohne Party?

Zum Angebot der Stadt, Open-Airs künftig kurzfristig anmelden zu dürfen

Wer als Neu-Chemnitzer*in in den letzten Monaten die Zeitung zum Thema Subkultur in Chemnitz las, hätte fast auf die Idee kommen können, die Stadt würde noch richtig attraktiv für Projekte abseits des kulturellen Mainstreams werden. Zwar war das Weltecho von massiven Lärmklagen bedroht und auch mehrere Freiluftfeiern wurde auf Grund ihres nicht ganz legalen Charakters aufgelöst. Doch in beiden Fällen ersann die Verwaltung eine Lösung – aktuell im Falle der Spontanfeiern der Plan, diese 48 Stunden vorher bei der Stadt anmelden zu dürfen und daraufhin die Feier ohne Störung durch Sicherheitskräfte durchführen zu können. Und jetzt, werden wir als Folge dessen nun nie wieder aufgelöste Freetechs zu beklagen haben und werden wir nun eine blühende Subkultur mit Projekten an jeder Ecke haben? Warum wir, die Linksjugend Chemnitz, mitnichten einen solch positiven Eindruck von diesem neuen Projekt der Stadtverwaltung haben und stattdessen fürchten, dass dieses eher einen negativen Einfluss auf die subkulturelle Landschaft in Chemnitz haben wird, werden wir im Folgenden kurz darlegen. Die Idee einer solchen OpenAir-Feier ist eine kostenlose Veranstaltung für Menschen in der Natur zu schaffen. Außerdem wird Wert auf Authentizität, Spontanität und Autarkie gelegt. Für gewöhnlich ist der Charakter einer solchen Feier unkommerziell, das heißt es wird weder kommerziell beworben, noch wird ein Umsatz erwirtschaftet. All jene Aspekte gingen bei diesem Angebot verloren. Zunächst gilt das Angebot eben nicht für jeden beliebigen Ort in der Stadt, sondern nur für drei Grillplätze und den Richard-Hartmann-Platz, die alle vier für eine Freiluftparty nach unserer Vorstellung denkbar ungeeignet sind, da sie nicht das passende Ambiente bieten. Außerdem sind sie nicht abseits gelegen, sodass kein Freiraumcharakter gegeben ist. Allerdings könnte man ein passendes Ambiente auch so schwer erschaffen, da weder der Aufbau einer Bühne noch das Anbringen von Zelten oder Dekorationen erlaubt wird. Wie die Verwaltung sich eine Feier ohne Bühne oder Zelte vorstellt, sei dahingestellt. Sowohl Besucher*innen als auch Technik benötigen, insbesondere in Sommermonaten, einen ausreichenden Regenschutz, der durch diese Beschränkungen eben nicht gewährleistet werden kann. Das finanzielle Risiko, das durch eine Beschädigung der Technik entsteht, ist für die meisten Veranstalter*innen zu hoch. Für eine per Auflage unkommerzielle, spontane Feier entstünden durch die Beschränkungen horrende Kosten. Zunächst wäre das Engagieren einer Sicherheitsfirma notwendig, da die Besucher*innenobergrenze eingehalten werden müsste und die Sicherheit der Gäste gewährleistet werden muss. Außerdem fallen Kosten für GEMA, Lärmmessung und die Geländenutzung an sich an – für den Richard-Hartmann-Platz beispielsweise 400 Euro je Nutzung. Da auch das Aufräumen der jeweiligen Plätze durch den*die Veranstalter*in gewährleistet werden muss, fallen hierfür ebenfalls Kosten an. All dies kann schnell zu Ausgaben im höheren vierstelligen Bereich führen, ein Betrag, der von unkommerziellen Veranstaltungen nicht refinanziert werden kann. Es ist also unwahrscheinlich, dass ein*e Veranstalter*in sich für eine solche Party in den finanziellen Ruin stürzt. Wir befürchten, dass jegliche anderen Open-Airs auf Grundlage dessen noch repressiver behandelt werden, als dies aktuell schon der Fall ist. Dadurch ergibt sich für eine doppelt negative Auswirkung für die Chemnitzer Kulturszene: einerseits sind die Konditionen so schlecht, dass es wohl kaum zu einer ausreichenden Nutzung des Angebots kommen wird, andererseits werden alternative Veranstaltungen wohl zukünftig noch repressiver behandelt, also entsprechend in der Zahl weniger werden. Damit kehrt sich der gewünschte Effekt des Projektes um – anstatt der Kulturlandschaft zu helfen, wird es zu ihrem Verfall beitragen. Das Landesjugendwahlprogramm der Linksjugend Sachsen fordert den Ausbau subkultureller Strukturen. Diese sollen von Seiten der Kommunen beispielsweise mittels Zuschüssen und dem Bereitstellen kostenlos verfügbarer Freiflächen zur unkommerziellen Nutzung unterstützt werden. Dass sich die Stadt Chemnitz bereit erklärt, Flächen zur Nutzung bereitzustellen, sehen wir als Schritt in die richtige Richtung an. Doch schon der Widerspruch zwischen kostenloser Bereitstellung, wie von der Linksjugend gefordert, und dem aktuellen, teuren Angebot der Stadt zeigt die massiven Mängel, die am positiven Effekt auf die Szene zweifeln lassen. Wir fordern, dass die Stadt die Flächen kostenlos zur Verfügung stellt und anfallende Ausgaben der Veranstalter zumindest teilweise mit übernimmt. Weiterhin fordern wir die Ausweitung des Angebotes auf Flächen im ganzen Stadtgebiet, die dann auch für Open-Air-Feiern geeignet sind. Wir freuen uns, dass die Stadt im Herbst das Projekt evaluieren möchte und hoffen dann auf einen offenen Dialog zwischen Kulturschaffenden und Politik, um die derzeit noch herrschenden Missstände offensiv anzugehen und zu beseitigen. In diesem Sinne sind wir durchaus zuversichtlich, dass das Angebot zukünftig der Chemnitzer Subkultur zugute kommen wird.

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LINKE Kommunalpolitik hat viele junge Gesichter

Am 29. März trafen sich in Chemnitz über 35 junge linke Menschen aus ganz Sachsen, die teilweise schon ein kommunales Mandat innehaben bzw. sich für Kommunalpolitik interessieren. Organisiert hatte dieses Vernetzungstreffen die Linksjugend Sachsen. Ziel war es, dass sich die jungen Kommunalpolitikerinnen, die zumeist in ihren Regionen Einzelkämpfer sind, einmal austauschen können und zu bestimmten Themen ihre Fragen loswerden können. In verschiedenen Workshops wurden dann die eigenen Erfahrungen ausgetauscht, Probleme erörtert und Ideen für kommunale Projekte gesammelt. So beschäftigte sich ein Workshop mit dem Kommunalhaushalt, wo an praktischen Beispielen gezeigt wurde, wie man diesen lesen und verstehen kann sowie Änderungsanträge dazu stellt. In einem anderen Seminar wurde das Thema Hauptsatzung und Geschäftsordnung behandelt. Schon in den ersten Diskussionsrunden zeigte sich, wie wichtig dieses Thema ist. Gerade bei den Rechten eines jeden Kommunalpolitikers gab es Unstimmigkeiten, die häufig durch die kommunalen Verwaltungen befördert wurden. So konnte z.B. geklärt werden, dass die Verwaltung nicht den Geschäftsführer einer Fraktion bestimmen kann. Im dritten Workshop ging es konkret zur Sache – nämlich Projektfindung. Was kann man in einer Kommune gestalten, wie muss bzw. kann man vorgehen und wer sind die richtigen Ansprechpartner. Dass so ein Treffen nicht einmalig sein wird, darüber waren sich die Teilnehmerinnen alle einig. Mindestens einmal im Jahr soll so etwas zukünftig stattfinden, evtl. auch in Verbindung mit Weiterbildungsseminaren. Aber auch dazwischen soll ein reger Austausch stattfinden. Dazu soll u.a. ein Forum im Internet eingerichtet werden, wo Anträge eingestellt und Fragen untereinander geklärt werden sollen. Das Treffen hat auf alle Fälle gezeigt, dass junge Menschen keineswegs politikverdrossen sind. Im Gegenteil – gerade die Politik vor Ort ist für viele interessant, wo sie gerne mitmischen wollen.

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„Kämpfe vereinen!“ – Demonstration zum Frauenkampftag

Der Internationale Frauentag wird nun seit dem frühen 20. Jahrhundert jährlich gefeiert, traditionell werden an diesem Tag Nelken an Frauen verteilt. Außer Blumen wurde Informationsmaterial von der Linksjugend [‘solid] und der Linken verteilt. Ein Novum allerdings ist, dass es neben Material und Blumen dieses Jahr auch eine Frauenkampftagsdemonstration in Leipzig gab. Letztes Jahr fand die Demo in dieser Form zum ersten Mal in Berlin statt, wozu bundesweit mobilisiert wurde. Die Idee dahinter ist, aus dem internationalen Frauentag wieder einen politischen Kampftag werden zu lassen, der weltweit für Selbstbestimmung der Frau eintritt. Dieses Jahr sollte neben Berlin bundesweit dezentraler demonstriert werden und so lud das Leipziger Frauenkampftagsbündnis, welches aus verschiedenen feministischen Bündnissen aus Leipzig bestand, zu einer eigenen Demonstration nach Leipzig ein. Die Demo lief unter dem Motto „Kämpfe vereinen! Für eine revolutionär-feministische Perspektive ! Gegen Sexismus und Patriarchat!“ und hatte das Ziel feministische Themen mehr in die Öffentlichkeit zu rücken und Diskriminierungen zu kritisieren. Obwohl die Mobilisierung relativ kurzfristig lief, kamen letztendlich doch fast tausend Menschen und liefen inklusive Zwischenkundgebungen am Augustus- und WilhelmLeuschner- Platz vom ClaraZetkin-Denkmal zum Südplatz. Das ist ein großer Erfolg. Feminismus und feministische Gesellschaftskritik scheint für viele Menschen ein großes Anliegen zu sein und scheint, wenn auch oft verleugnet, weder veraltet noch unaktuell zu sein. Der große Zulauf und die unterschiedlichsten Teilnerhmer_innen und Gruppen stimmen uns sehr positiv und haben aus der Demo eine bunte und vielseitige Demonstration gemacht. Auf den unterschiedlichen Kundgebungen wurde unter anderem zum Thema Intersektionalität (also Geschlechterdiskriminierung in der Verbindung mit anderen Diskriminierungen wie Rassismus und Transphobie) gesprochen. Natürlichen wurden auch andere Themen angesprochen (wie zum Beispiel Gewalt gegen Frauen, Sexismus und Antifeminismus in der linken Szene und die fehlende Wertschätzung der Arbeit von Frauen in der Haus- und CareArbeit), ebenfalls gab es einen Redebeitrag zur kurdischen Frauenbewegung. Außerdem wurde der christlich-fundamentalistische Schweigemarsch durch Annaberg-Buchholz thematisiert. Dieser soll am 1. Juni stattfinden und gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau über den eigenen Körper gerichtet sein. Der Gegenprotest dazu ist bereits in Planung: www.schweigemarsch-stoppen.de Weitere Informationen rund um den Frauenkampftag in Leipzig findet ihr auf 8maerzleipzig.blogsport.eu

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„ …, aber man muss ja mal mit denen reden.“

Seit dem Beginn der Pegida Demonstrationen im Oktober des letzten Jahres und der nachfolgenden regionalen Ableger, wird quer durch die Zivilgesellschaft und in allen Parteien über den Umgang mit diesem Phänomen gestritten. Viel wurde diskutiert, wer sich denn eigentlich hinter den Demonstrierenden verbirgt und was genau ihre Forderungen sind. Die Fragen nach dem Wer und nach dem Was sind nicht einfach zu beantworten. Klar ist, dass dort neben organisierten Neonazis, Reichsbürger_innen und Verschwörungstheoretiker_innen auch die netten Nachbar_innen aus dem Dorf und dem Wohnblock mitlaufen – alle zusammen bezeichnen sie sich aber stets als „besorgte Bürger“. Das Spektrum der Teilnehmenden ist also weit gestreut. Für darüber hinaus gehende Aussagen fehlt derzeit schlicht das belastbare Material, zwei Studien zum Charakter der PEGIDA aus dem Umfeld der TU Dresden disqualifizieren sich beide aufgrund erheblicher methodischer Mängel. Und weil einer der verantwortlichen Professoren unverkennbare Sympathien für die Aufmärsche zeigte. Hierüber gelangen wir unmittelbar zur Frage des „Was“. Was sie denn eigentlich fordern und wollen. Offen zeigt sich, dass der „Forderungskatalog“, der je nach regionaler Ausprägung mal bürgerlich bis offen neonazistisch daherkommt, in keinem Falle einem Faktencheck standhielte. Die meisten der Forderungen finden sich bereits in geltenden Gesetzen und Vorschriften wieder. Mehr aber zeigen die wütenden Skandierungen auf den Demonstrationen, was den Kern aller X-GIDA ausmacht: die Zurschaustellung einer diffusen Befindlichkeit. Es geht um das öffentliche Präsentieren von Ressentiments, von selektiver Wahrnehmung, die alles ausblendet, was nicht in die vorgefertigte Meinung passt. Von rassistischen, nationalistischen und islamophoben Einstellungen. Von dem Gefühl des Zu-kurz-gekommen-Seins. Dass „die da oben“ ja eh nichts machen – und wenn doch, dann immer alles falsch. Imaginierten wie tatsächlichen gesellschaftlichen Herausforderungen werden vermeintlich einfache Lösungen gegenübergestellt. Zum Beispiel: „Zu wenig Geld und soziale Fürsorge für Rentner_innen? Die vielen „Ausländer“ sind schuld, die müssen weg.“ In Sachsen? Ehrlich jetzt?! Machen wir uns doch einmal ein klareres Bild. Es gibt eine Vielzahl von Problemen und Fragestellungen, von Sozialpolitik über das Bildungssystem hin zur Wirtschaft und noch viele andere. Wir leben in einer komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft. Deshalb verbieten sich simple Schlagwort-Antworten und Schuldzuweisungen an jene, die gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Klare Analyse muss sich dem Ressentiment entgegenstellen. Strukturelle Diskriminierung muss entlarvt und nicht für die Krise ein Subjekt gefunden werden, auf das sich alle Schuldzuweisungen abladen ließe. Bedenklich ist allerdings, welches Verständnis von Politik sich bei den Sympathisant_innen von PEGIDA und Co zeigt. Politik gerät zur Dienstleistungsgesellschaft, politische Entscheidungen zur Ware. Ich will jetzt, also macht mal. Von gesellschaftlichem Interessenausgleich und von Minderheitenschutz, dem Kern einer pluralistischen Gesellschaft, keine Spur. Und wenn dabei Grundrechte aufgehoben werden sollen, wie etwa das Recht auf Religionsfreiheit oder das Recht auf Asyl, dann haben „die da oben“ das auch so zu machen. Wenn nicht, spiele ich die beleidigte Leberwurst und rufe was von „Lügenpresse“. Und noch hinterher etwas von „Wir sind das Volk“ um allen klarzumachen, wer denn nicht zum Volk gehören darf. Denn fügt man den stillen Nebensatz an, zeigt sich die Intention des Gesagten: „Wir sind das Volk – und ihr eben nicht.“ Liebe Genoss_innen, worüber also mit den Anhänger_innen von rassistischen Mobilisierungen reden? Sparen wir uns da den Atem und konzentrieren uns lieber auf jene, denen keine Stimme zuteil wird seitens Staatsregierung und Bildungszentrale. Stehen wir solidarisch für jene ein, die vom Mob bedrängt werden: migrierten Menschen, Geflüchteten und allen anderen, die nicht in die verengte Weltsicht von EnemenemuhGIDA passen. Bleiben wir weiter bei jenen, die seit vielen Jahren Kritik an den herrschenden Verhältnissen üben, ohne dass sie groß Beachtung finden und dabei auf ein ausgrenzendes „Wir“ gegen „Die“ verzichten. Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und deren bissige Offenlegung ist der Kern linker Politikgestaltung – fallen wir nicht dahinter zurück, in dem wir rassistischen Schreihälsen ein Podium liefern. PS: Der PEGIDA e.V., eine Organisation von zwölf Leuten, die für sich in Anspruch nimmt, die „schweigende Mehrheit“ der Deutschen zu repräsentierten, zerbricht daran, dass sie ihre jeweiligen Interessen nicht aushandeln können. Ah ja. PPS: Am Abend des 6. Februar standen Nazis mit Fackeln vor einer Asylunterkunft in Dortmund. PEGIDA und Konsorten schaffen ein gesellschaftliches Klima, in dem sich Nazis als Vollstrecker von „Wir sind das Volk – und ihr eben nicht“ fühlen dürfen. Genug gesagt.

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Das Grundeinkommen und die Analyse des Kapitalismus im „Kapital“ von Karl Marx

Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ist ein Konzept, das sich aus vielerlei Perspektiven begründen lässt. Bei manchen Befürworter_innen erfolgt dies aus einer humanistisch-ethischen, menschenrechtlichen Motivation heraus, nämlich jedem Menschen aufgrund seiner bloßen Existenz ein menschenwürdiges Dasein ohne Vorbedingungen zu ermöglichen. Andere wiederum fordern ein BGE aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen. Hier sei z.B. an die „Bergpredigt“ Christi aus der Bibel erinnert. Die Notwendigkeit eines BGE kann allerdings auch marxistisch hergeleitet werden, was an dieser Stelle verdeutlicht werden soll. Bei seiner Analyse des Produktionsprozesses des Kapitals, d.h. im ersten Band seines monumentalen Werkes, stößt Marx auf eine Gesetzmäßigkeit kapitalistischer Entwicklung. Er weist nach, dass sich mit fortschreitender Akkumulation des Kapitals seine Zusammensetzung verändert. Je weiter die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt, desto mehr nimmt der Anteil des variablen Kapitalteils, der Arbeitskraft, der an der Mehrwertproduktion beteiligt ist, zugunsten des konstanten Kapitalteils ab, worunter Marx die Produktionsmittel, also z.B. Maschinen und andere technische Komponenten des Produktionsprozess versteht. Die allgemeine Entwicklungstendenz der kapitalistischen Produktionsweise führt demnach zu einer fortschreitenden Freisetzung von Arbeitskräften. Da die Mechanisierung und Rationalisierung des Produktionsprozesses sich in kapitalistischen Produktionsverhältnissen vollzieht, bedeutet diese „Freisetzung“ für die betroffenen Arbeiter_innen Not und Elend, egal übrigens ob sie weiterhin direkt am Produktionsprozess beteiligt sind oder in die stetig wachsenden „industriellen Reservearmeen“ hinein gestoßen, d.h. arbeitslos werden. Denn der_die Arbeiter_in im Kapitalverhältnis ist „doppelt frei“. Er_sie verfügt frei über seine_ihre Arbeitskraft, ist allerdings auch frei vom Besitz an Produktionsmitteln, womit er_sie seinen_ihren Lebensunterhalt selbstständig erwirtschaften könnte. Damit ist er_sie im Kapitalismus gezwungen seine_ihre Arbeitskraft, gleich unter welch schlechten Bedingungen um den Preis seiner_ihrer Existenz an das Kapital zu verkaufen. Damit geht kapitalistische Mechanisierung und Rationalisierung paradoxerweise einher mit steigenden Arbeitszeiten und Intensivierung der Arbeit für die, die sich noch im Produktionsprozess befinden, auch weil die „industriellen Reservearmeen“ vom Kapital zum Drücken der Löhne und allgemein als Kampfmittel gegen die Interessen der Arbeiter_innen benutzt werden, indem u.a. die Furcht der Arbeiter_innen vor dem Verlust ihrer Existenzgrundlage, nämliche ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen zu können, ausgenutzt wird. Marx selber hat nie explizit ein Grundeinkommen gefordert. Überhaupt hält er sich insbesondere im „Kapital“ mit dem Ausblick auf eine sozialistische Zukunftsgesellschaft, bzw. mit Anleitungen, wie diese überhaupt erreicht werden soll, zurück und beschränkt sich auf die Analyse der historisch-dialektischen Fortentwicklung seines Forschungsgegenstandes, des Kapitals. Er geht davon aus, dass die Arbeiter_innen irgendwann das für sie untragbare Kapitalverhältnis rationell durchschauen lernen, Bewusstsein über ihre Lage gewinnen, sich organisieren und dieses Verhältnis in seiner gesellschaftlichen Gesamtheit revolutionär abschaffen und durch einen wie auch immer gearteten „Verein freier Menschen“ ersetzen werden. Die Geschichte der letzten 150 Jahre seit Erscheinen des „Kapitals“ zeigt, dass diese Annahme von Marx so nicht zutreffend ist. Ein Grund hierfür ist, dass Menschen, die um ihre Existenz fürchten, nur bedingt dazu in der Lage sind, rationell Verhältnisse zu reflektieren. Häufig suchen sie nach Schuldigen für ihre prekäre Lage, resignieren oder richten ihre daraus entstehende Wut und Aggressionen im schlimmsten Fall gegen jene, denen es noch schlechter ergeht als ihnen selbst. Ein bedingungsloses Grundeinkommen trägt daher nicht nur der von Marx entdeckten Gesetzmäßigkeit Rechnung, dass ein hochentwickelter Kapitalismus nur noch ein Minimum an Arbeitskräften für seine Reproduktion und Akkumulation benötigt. Es lässt ihn daraus außerdem nicht eine Waffe gegen die noch Beschäftigten schmieden, sondern macht diese Waffe im Gegenteil von vornherein stumpf, da die Gewährleistung auf eine auskömmliche Existenz vom „freien“ Verkauf der Arbeitskraft entkoppelt wird. Indem das Grundeinkommen den Menschen die Existenzangst nimmt, erleichtert es ihnen zudem, sich ihrer Lage und der gesellschaftlichen Verhältnisse bewusst zu werden und möglicherweise zu erkennen, dass das kapitalistische Ganze radikal in Frage zu stellen ist und nicht nur einzelne Symptome oder vermeintlich „Schuldige“. Das Grundeinkommen begründet damit nicht den „Verein freier Menschen“, den es unter kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen nicht geben kann, aber es ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin. Es ist ein Stück revolutionärer Realpolitik, im Kapitalismus durch Reformen zu verwirklichen und trotzdem über ihn hinausweisend.

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Weitere Aushöhlung des Rechts auf Asyl

Was bedeutet eigentlich „sicherer Herkunftsstaat“? Der „sichere Herkunftsstaat“ oder auch „sicherer Drittstaat“ ist ein Kernbegriff des deutschen Asylrechts, der durch den Asylkompromiss von 1993 entstand. Im Kern besagt die Regelung von sogenannten sicheren Staaten: wer durch oder aus ihnen nach Deutschland einreist, hat keinen Anspruch auf Asyl. Nun umfasst diese Liste neben den afrikanischen Staaten Ghana und Senegal sämtliche Staaten der Europäischen Union. An dieser Stelle möge nun jede Leserin und jeder Leser sich kurz die geographische Lage Deutschlands in Europa vergegenwärtigen – und die Absurdität dieser Regelung tritt zutage. Nun steht der Begriff des sicheren Herkunftsstaates derzeit im Zentrum eines Gesetzesentwurfes, der aktuell von der Regierungskoalition aus CDU/ CSU und SPD durch den Bundestag gebracht wurde, aber im Bundesrat auf Widerstand stieß. Die Staaten Serbien, Mazedonien und Bosnien und Herzegowina sollen per Gesetz ebenfalls zu sicheren Herkunftsstaat erklärt werden, womit von vornherein jeder Antrag auf Asyl aus diesen Staaten unterbunden werden soll. Dieses Gesetzesvorhaben ist schlicht beschämend. Denn in diesen drei Staaten, ist die soziale Ausgrenzung und staatliche Repression gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten weit verbreitet. Es wird gerade die Minderheit der Roma und Sinti treffen, die aufgrund der dortigen Gesetzgebung zu einem Leben am Rande der Gesellschaft genötigt werden. Die Forderung vieler Organisationen, die sich für die Rechte geflüchteter Menschen einsetzen, jeden Antrag auf Asyl ausnahmslos als Einzelfall genau zu prüfen, wird in den Wind geschlagen. Massenabfertigung ohne weitere Untersuchung wird die Folge sein – „Antrag offensichtlich unbegründet“ heißt die juristische Begründung. Überdies liegen zwei weitere Gesetzesentwürfe parat, die nach der Sommerpause des Bundestages die weitere Verschärfung des Asylrechts vorantreiben sollen. Der eine Entwurf befasst sich mit der Neuregelung des Aufenthaltsrechts – zu Ungunsten geflüchteter Menschen. So soll etwa jeder Grenzübertritt ohne Papiere oder Visa zukünftig als Grund für eine Inhaftnahme gelten. Noch einmal bitte ich darum, sich folgendes zu vergegenwärtigen: welcher Mensch hat auf der Flucht denn solche Papiere bei sich? Insgesamt wird es nach dem Vorschlag des Bundesinnenministerium, welches den Gesetzesentwurf erstellte, sieben Gründe für Inhaftnahme geben – was nichts anderes ist, als die Kriminalisierung geflüchteter Menschen. Der andere soll die Leistungen „reformieren“, die denjenigen zustehen, welche sich in Deutschland im Asylverfahren befinden. Auch hier lassen sich im Entwurf nur marginale Verbesserungen gegenüber substanziellen Unterlassungen und Verschlechterungen finden. Einer der wichtigsten Punkte, die medizinische Versorgung von Asylsuchenden, bleibt ausgespart. Was das in der Praxis heißt? Medizinischer Bedarf besteht nur dann, wenn eine Erkrankung akut wird, nicht, um sie abzuwenden. Und auch dann muss vorher beim zuständigen Sozialamt ein Krankenschein erstellt werden. Also entscheidet bislang Nicht-medizinisches Personal über Dringlichkeit medizinischer Leistungen. Woran sich nach Willen der Bundesregierung auch in Zukunft nichts ändern soll. Letztlich folgt all dies aber einer inneren Logik: unerwünschte Asylsuchende abschrecken oder zur alsbaldigen „freiwilligen Ausreise“ bewegen. Unerwünscht ist, wer nichts leistet, wer nicht nützlich ist. Es ist kein Zufall, dass flüchtende Menschen aus den Westbalkanstaaten als „Armutsflüchtlinge“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ betitelt werden und, wie oben ausgeführt, von vornherein ausgeschlossen werden sollen. Andere „Flüchtlinge, die es bis nach Deutschland geschafft haben, sind hochmobil, flexibel, mehrsprachig, leistungs- und risikobereit.“ Oder „Auch daran sollten wir denken in einer Gesellschaft, in der viel über den demografischen Wandel, Bevölkerungsrückgang und drohenden Fachkräftemangel diskutiert wird.“ So meinte es zumindest Bundespräsident Joachim Gauck am 30.06.2014 – ausgerechnet auf einem internationalen Symposium zum Thema Flüchtlingsschutz. Der Schutz von Menschen sollte aber unter keinen Umständen einem Denken von Nutzen und Verwertung unterliegen, das gebietet der Anstand und die eigene Würde. Es kann und darf allein der einzelne Mensch der Maßstab sein. Nur findet dies seit fast über 20 Jahren keinen Widerhall in der Gesetzgebung. Asylrecht in Deutschland – das ist Zynismus.